Politik

Junge Menschen und die EU-Wahl

Artikel
Anne Meisiek, Etienne Höra
Eine Frau weht mit einer großen Europafahne

Erste Wahl Europa? Junge Menschen und die Wahlen zum Europäischen Parlament 

Bei der Europawahl 2024 dürfen fast 21 Millionen junge Menschen zum ersten Mal abstimmen, allein 5,1 Millionen davon in Deutschland. Damit können so viele von ihnen wie nie die Zukunft Europas mitbestimmen. Diese jungen Wähler:innen kennen keine Welt ohne die wichtigsten Errungenschaften der EU, etwa die Abschaffung der Grenzkontrollen im Schengen-Raum (1995), die Einführung des Euro (2002) und die Erweiterung der EU um zehn vor allem mittel- und osteuropäische Länder (2004). Im Umgang mit den multiplen Krisen, vor denen die EU steht, ist gleichzeitig von Aufbruch und Verjüngung wenig zu spüren. Ungehörte Stimmen, aber auch ungenutztes Potential für Europa: Repräsentative eupinions-Umfragedaten der Bertelsmann Stiftung zeigen, dass junge Menschen im Alter von 16 bis 25 stärker pro-europäisch eingestellt sind, aber auch seltener zur Wahl gehen wollen als andere Alterskohorten – und aus anderen Gründen.

Selbstverständlich europäisch: Die allermeisten jungen Menschen befürworten die EU.

Dass junge Menschen stärker hinter der EU stehen als andere Altersgruppen, lässt sich zunächst mit einem fiktiven Referendum zeigen (Fig 1): Sowohl in Deutschland als auch im Durchschnitt der 27 Mitgliedstaaten wäre die Mehrheit dafür, in der EU zu bleiben, unter jungen Menschen ist dieser Anteil noch deutlich größer. Hierfür würden jeweils fast vier von fünf jungen Menschen stimmen, gegenüber immerhin zwei Dritteln der älteren Kohorten. Nur 8 % der Deutschen zwischen 16 und 25 wären nach eigener Aussage für einen „Dexit“– unter älteren Befragten bis 69 sagt dies immerhin ein Viertel. Es fällt außerdem auf, dass die zweithäufigste Antwort unter jüngeren Deutschen nicht etwa ist, die EU verlassen zu wollen (8 %), sondern sich zu enthalten (14 %). Für die allermeisten jungen Wahlberechtigten scheint die EU eine Selbstverständlichkeit zu sein, die sie bewahren möchten.

 

Fig 1

 

Fragt man junge Menschen bis 25 danach, wie sie die generelle Entwicklung der EU beurteilen, ergibt sich eine ähnliche Tendenz: In Deutschland findet zwar selbst unter jungen Menschen die Mehrheit, dass die EU sich nicht in die richtige Richtung entwickelt – dabei aber immer noch 8 Prozentpunkte weniger als unter den Älteren. Im EU-weiten Durchschnitt zeigt sich ein ähnliches Bild, wobei hier der Abstand zwischen den Altersgruppen größer ist und immerhin etwas mehr als die Hälfte der jungen Menschen angibt, die EU entwickele sich in die richtige Richtung (Fig 2). Diese Tendenz ist sogar im Zeitverlauf stabil: Auch wenn die Bewertung der Entwicklung der EU zum Teil stark schwankt, so ist die Einschätzung der jüngeren Altersgruppe doch stets positiver als die älterer Altersgruppen. Zudem äußern sich jüngere Befragte deutlich häufiger zufrieden mit der Demokratie in der EU – insgesamt sind dies 69 % (im Vergleich zu 55 % bei älteren Befragten), in Deutschland 67 % (im Vergleich zu 53 %).

 

Fig 2

 

Partizipationslücke: Junge Menschen wählen bei EU-Wahlen trotzdem vergleichsweise selten.

Zur Europawahl zu gehen scheint für viele junge Menschen demgegenüber deutlich weniger selbstverständlich – obwohl bei dieser Wahl für die EU besonders viel auf dem Spiel steht, ist die Wahlintention verhältnismäßig niedrig (Fig 3). Dies ist gerade jetzt, wo die Demokratie vielerorts unter Druck steht, fatal. Nur 57 % der 16- bis 25-jährigen Deutschen planen, wählen zu gehen, im Vergleich zu 62 % bei Befragten ab 26. Diese Diskrepanz wiegt umso schwerer, zieht man die demographischen Verhältnisse in Betracht: Selbst, wenn alle Wahlberechtigten abstimmen würden, wäre der Anteil junger Menschen unter 30 am Gesamtergebnis in Deutschland weniger als 15 %. Um einen substanziellen Einfluss auf EU-Politik auszuüben, müssten junge Menschen deshalb überproportional häufig wählen gehen.

Zum Vergleich: Bei den letzten Europawahlen 2019 ist europaweit erstmals seit den Neunzigern etwa die Hälfte der Wahlberechtigten wählen gegangen (50,6 %), in Deutschland sogar über 60 %. Die Wahlbeteiligung bei Europawahlen liegt aber nach wie vor weit unter der Mobilisierung für nationale Wahlen, so waren es zuletzt beispielsweise bei den Bundestagwahlen 2021 in Deutschland immerhin 76,4 %. Auch hier gab es deutliche Unterschiede zwischen den Altersgruppen: bei Deutschen zwischen 18 und 29 lag die Wahlbeteiligung zwischen 54 % und knapp 59 %, also unter dem Bevölkerungsdurchschnitt.

Eine weitere wichtige Erkenntnis für die anstehende Wahl im Juni: Zum Erhebungszeitpunkt im März war insgesamt etwa ein Viertel der Wahlberechtigten noch unentschlossen, nicht nur im Hinblick darauf, wen sie wählen, sondern auch ob sie überhaupt wählen. Im Vorfeld der letzten Europawahlen gaben in einer eupinions-Umfrage von Dezember 2018 68 % der Deutschen an, wählen gehen zu wollen, 19 % waren unentschlossen. Im Endeffekt lag die Wahlbeteiligung bei 61,4 %. Inwiefern der Wahlkampf der Parteien, aber auch überparteiliche Kampagnen der europäischen Institutionen und aus der Zivilgesellschaft die Unentschlossenen mobilisieren konnten, zeigt sich an den Wahltagen. Unsere Daten erlauben aber einen Blick darauf, warum sich Menschen an der Wahl beteiligen wollen. Auch hier zeigt sich eine Diskrepanz zwischen den Altersgruppen.

 

Fig 3

 

Anti-Protestwähler:innen? Junge Menschen wählen aus anderen Gründen.

Obwohl innerhalb eines EU-Mitgliedstaats alle Stimmen das gleiche Gewicht haben, stehen dahinter höchst unterschiedliche Beweggründe: Während manche Wähler:innen konkret Einfluss auf die Politik der EU nehmen oder eine Partei unterstützen wollen, der sie nahestehen, nutzen andere ihre Stimme eher, um ihre nationale Regierung abzustrafen und ihre Unzufriedenheit auszudrücken. Insgesamt scheinen die Deutschen, die planen, wählen zu gehen, vor allem durch den Wunsch motiviert zu sein, die Richtung der EU mitzubestimmen und die ihnen nahestehende Partei zu unterstützen. Etwa 40 % der Befragten geben den Einfluss darauf, wer die Europäische Kommission anführt, als wichtige Motivation an – und das obwohl das Spitzenkandidat:innen-System, laut dem der oder die Spitzenkandidat:in der stärksten politischen Gruppe designierte:r Kommissionspräsident:in wird, bereits nach der letzten Europawahl 2019 mit der Wahl Ursula von der Leyens umgangen wurde.

Ein auffälliger Unterschied zu den übrigen Altersgruppen: Besonders wenige junge Menschen sind Protestwähler:innen, die in erster Linie Unzufriedenheit mit der aktuellen Politik ausdrücken wollen (23 % gegenüber 30 %). Im Gegenteil: Vergleichsweise viele junge Menschen, die beabsichtigen, wählen zu gehen, möchten damit ihre Zustimmung zur aktuellen Politik äußern (30 % gegenüber 20 %). Ebenso vielfältig können die Beweggründe von Nichtwähler:innen sein: Entscheiden sie sich aus Desinteresse dagegen, sich zu beteiligen, lehnen sie alle politischen Angebote ab, die zur Wahl stehen, oder haben sie das Gefühl, mit ihrer Stimme keinen Einfluss auf Politik in der EU nehmen zu können? Ein Schlüssel könnte in den unterschiedlichen Themen liegen, die Wähler:innen besonders wichtig sind: Haben sie das Gefühl, dass „ihre“ Themen und Perspektiven im Diskurs weniger vorkommen, so sinkt auch die Motivation, sich einzubringen – bei der Wahl und darüber hinaus.

 

Fig 4

 

Mehr Bürgerrechte und Klima, weniger Sorge um Migration: Junge Menschen setzen eigene Themen.

Auch hier zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen den Altersgruppen, zunächst aber eine Gemeinsamkeit. Bei einer Sache sind sich alle Generationen einig, auch angesichts des andauernden Krieges in der direkten EU-Nachbarschaft: Die Sicherung des Friedens sollte in Zukunft höchste Priorität der EU sein (Fig 5). Danach gibt es jedoch große Diskrepanzen: Das Thema Migration, das den EU-Diskurs lange dominiert hat, nennt unter älteren Wähler:innen fast jede:r Zweite, nach Sicherung des Friedens wird es somit als zweitwichtigste Priorität der EU gesehen. Unter Jüngeren erreicht das Thema Migration jedoch nur Platz sechs – und teilt sich diesen mit der Bekämpfung von Ungleichheit. In Anbetracht der Tatsache, dass Migration von einigen Parteien als das Wahlkampfthema in den Vordergrund gerückt wird, ist das eine interessante Erkenntnis und legt nahe, dass nur ein Viertel der Jüngeren sich dadurch auch tatsächlich angesprochen fühlt. Auch die Notwendigkeit von (Wirtschafts-)Wachstum wird von Befragten zwischen 16 und 25 Jahren anders bewertet; sie nennen es nur etwa halb so häufig als eine der drei künftigen Hauptprioritäten. Deutlich wichtiger sind ihnen die Themen Bürgerrechte (50 %, gegenüber 32 %) und die Bekämpfung des Klimawandels (42 % gegenüber 31 %).

 

 

Fig 5

 

Eine funktionierende Demokratie in Europa lebt von der Partizipation aller Bürger:innen, und besonders von der Partizipation von gesellschaftlichen Gruppen, die im politischen Diskurs unterrepräsentiert sind. Hierzu gehören auch junge Menschen. Die teils großen Differenzen zwischen den Altersgruppen in Bezug auf Einstellungen zur EU, Wahlmotivationen und politische Prioritäten zeigen: Damit die Themen und Prioritäten junger Menschen in der EU-Politik eine Rolle spielen, ist es entscheidend, dass sie sich einbringen – indem sie wählen, indem sie an Abgeordnete schreiben, in Parteien und in der Zivilgesellschaft. Wenn sie nicht entscheiden, wird für sie entschieden. Aber auch Institutionen und Parteien sollten nicht gleichgültig sein: Junge Menschen sind die Zukunft Europas, und viele von ihnen sind daran interessiert, diese aktiv mitzugestalten. EU und Mitgliedstaaten täten deshalb gut daran, mehr Räume zu schaffen, in denen ihre Stimmen gehört werden – vor der Wahl und darüber hinaus.

 

 

eupinions ist ein Projekt der Bertelsmann Stiftung.
„eupinions“ ist das europäische Meinungsforschungsinstrument der Bertelsmann Stiftung, das zusammen mit Latana entwickelt wurde. Alle drei Monate werden Bürger:innen aller EU-Mitgliedstaaten zu europäischen Themen befragt. Die Befragung für die vorliegende Auswertung fand vom 5. bis 12. März 2024 in der gesamten EU statt und ist mit einer Stichprobengröße von 13.241 Personen repräsentativ für die EU insgesamt sowie für die Mitgliedstaaten Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, die Niederlande, Polen und Spanien.

 

Bildquelle: © weyo - stock.adobe.com
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