Jung und einsam – Internationale Perspektiven für ein neues politisches Handlungsfeld
Leonie Schwichtenberg, Karenina Schröder, Michael Seberich
Wer glaubt, dass sich diese Fragen einfach und schnell beantworten lassen, wird beim Weiterlesen eher enttäuscht sein. Natürlich gibt es Datenerhebungen, die zeigen, in welchen Themen junge Menschen eher unterwegs sind, was sie mehr bewegt und woran sie weniger interessiert sind. Doch so umfangreich eine ganze Generation an Individuen ist, so vielfältig sind auch deren Interessen und Ausprägungen. Der Versuch eines Deep Dives in die Welt der nachkommenden Generation kann deshalb immer nur ein Querschnitt und Blitzlicht sein. Individuen entwickeln und verändern sich. Täglich. Und das ist gut so.
2023 betrug der Anteil junger Menschen zwischen 16 und 30 Jahren in Deutschland nur noch 16 Prozent. Tendenz fallend. Was erstmal nur wie eine Zahl daherkommt, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als harsche Bedrohungslage für das Fundament, auf das unsere Gesellschaft, unsere Wirtschaft und alle wichtigen Unterstützungssysteme in Deutschland gebaut sind. Die Auswirkungen dieses Rückgangs erleben wir momentan.
Hinzu kommt aber auch eine größer werdende Ungleichheit geburtenstarker und geburtenarmer Regionen. Während manche Regionen relativ stabile Werte aufweisen, gibt es vornehmlich in wirtschaftsschwachen Regionen einen zunehmenden und problemverstärkenden Rückgang junger Menschen (weniger Geburten und stärkere Abwanderung) gemessen an der Gesamtbevölkerung.
Was das für die politische Mitbestimmung per Urnengang bedeutet, liegt damit klar auf der Hand. Der geringe Wähleranteil der 16 bis 30-Jährigen führt dazu, dass ihnen im politischen Alltag kaum Beachtung geschenkt wird. Am ehesten erhalten sie noch Unterstützung durch „Überzeugungstäter:innen“ und Politiker:innen, die gewillt sind, weiter als bis zur nächsten Wahl zu denken. Der Normalfall ist aber eher das Gegenteil. Dort, wo junge Menschen aus Frust und Protest „auf die Straße gehen“, schlägt ihnen oftmals Hohn, Bagatellisierung und die breite Hand Justitias entgegen. So ist es auch nicht verwunderlich, wenn 71 Prozent der 15- bis 25-Jährigen davon überzeugt sind, dass sich Politiker:innen nicht darum kümmern, was junge Menschen denken. Das ist nachvollziehbar frustrierend für eine Generation, die politisch etwas verändern möchte (66 Prozent). Fakt ist: Nur knapp ein Drittel (29 Prozent) hat das Gefühl, Politik verändern zu können.
In der Folge führt dies unter anderem dazu, dass sich 86 Prozent der 14- bis 24-Jährigen Sorgen um ihre Zukunft machen. Neben der gefühlten Hilflosigkeit in Bezug auf politische Mitgestaltung bewegen sie die Auswirkungen der großen Herausforderungen dieser Tage. An der Spitze ihrer Sorgenliste steht die Inflation (63 Prozent), der Krieg in Europa (59 Prozent) der Klimawandel (53 Prozent) und die Wirtschaftskrise (45 Prozent). Diese Belastungen schlagen sich in alarmierenden Zahlen nieder. So gibt jeder vierte junge Mensch zwischen 14 und 29 Jahren an, mit seiner mentalen Gesundheit unzufrieden zu sein. 794 junge Menschen im Alter von 15 bis 29 Jahren begingen 2021 Suizid. 2022 waren es 810 Personen. Das entspricht einem Durchschnitt von mehr als zwei jungen Menschen pro Tag! Oder um das nochmal anders einzuordnen: Von 13 jungen Menschen, die durch Verkehrsunfälle und Suizid im Jahr 2022 starben, wurden fünf im Straßenverkehr getötet und acht haben sich das Leben genommen. Warum sprechen wir nicht darüber?
Die Sorgen und psychischen Belastungen der NextGen schlagen sich aber auch im Arbeitskontext nieder. Besonders in der Altersgruppe der 25- bis 29-Jährigen ist ein enormer Anstieg der Krankschreibungen aufgrund psychischer Erkrankungen im Vergleich zu den Vorjahren erkennbar. Bei jungen Frauen stieg der Anteil im Jahr 2022 um 24 Prozent, bei jungen Männern um 29 Prozent. Demzufolge ist es auch erklärbar, dass Menschen dieser Altersgruppe ihren Safe-Space traditioneller formulieren als noch ihre Elterngeneration in dem Alter. So legen sie zum Beispiel großen Wert auf einen sicheren Arbeitsplatz (88 Prozent), Work-Life-Balance (85 Prozent) und soziales Engagement (42 Prozent).
Wen der letztgenannte Wert überrascht, steht nicht alleine da. Zu oft wurde die NextGen in den vergangenen Jahren als faul, rücksichtslos und generell unbrauchbar in eine große one-fits-all-Schublade gesteckt. Praktisch für ein schnelles, aufmerksamkeitsheischendes Framing, aber so falsch wie verkürzt. Die häufigsten Bereiche, in denen sich junge Menschen engagieren, sind Sport/Bewegung, Umwelt/Naturschutz/Tierschutz sowie Politik/politische Interessenvertretung. Sensibilisiert sind sie aber auch, was das Thema Nachhaltigkeit betrifft. 76 Prozent der 16- bis 30-Jährigen legen großen Wert darauf, sich im Alltag nachhaltig zu verhalten. Dabei geht es den meisten nicht um generellen Verzicht, sondern vielmehr um einen bewussten und schonenden Umgang mit Ressourcen wie zum Beispiel die Bemühung, Lebensmittel/Essen nicht zu verschwenden (76 Prozent), Müll zu vermeiden, bewusst Wasser und Energie zu sparen (59 Prozent) sowie ressourcenschonende Verkehrsmittel zu benutzen (48 Prozent).
Und auch hier schlägt sich die private Einstellung auf die Arbeitswelt nieder. 42 Prozent der jungen Menschen zwischen 16 und 30 Jahren möchte in einem Unternehmen arbeiten, das einen Beitrag zum Klimaschutz leistet. Und einen Schritt weiter: Jedem Zweiten in dieser Altersgruppe ist es wichtig, durch die Arbeit einen Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung der Gesellschaft zu leisten. Doch hier wie auch in anderen Bereichen fehlen den jungen Menschen oftmals Vorbilder, zu denen sie hauptsächlich Eltern und Freund:innen zählen, aber auch Peergroups und Social Media bzw. Influencer. Dabei wächst der Einfluss von Influencern stetig an. Wo für frühere Generationen Eltern die ersten Ansprechpartner waren, schwindet ihr Einfluss; zumal viele aus der Elterngeneration selbst oft mit den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen hadern. Das Versprechen „Leistung lohnt sich“ aus ihrer Ausbildungs- und Studienzeit hat sich für viele so nicht bewahrheitet.
Internet und Social Media also. Das meistgenutzte soziale Netzwerk in der Gruppe der 14- bis 29-Jährigen ist momentan Instagram. 74 Prozent nutzen mindestens wöchentlich dieses soziale Netzwerk, gefolgt von Snapchat (47 Prozent) und TikTok (44 Prozent). Hier finden sie Peers, die sie positiv und leider auch negativ beeinflussen. Groß ist die Anzahl der Accounts, die einfache Lösungen und populistischen Blödsinn verkaufen. Während Politik und Judikative darüber diskutieren, wie eine Regulierung aussehen könnte, schaffen sich Rechtsextreme und Verschwörungstheoretiker Bubbles, die genau darauf abzielen, die Unentschlossenen, Empfänglichen einzufangen. Und es funktioniert. Gute Ansätze, um dem gegenzusteuern, gibt es. Aber wirklich nachhaltig das Problem zu lösen, scheint Stand heute in weiter Ferne zu liegen.
Neben Social Media-Nutzern gibt es aber noch eine andere große Gruppe, die sich vor Rechnern, Smartphones oder Konsolen versammelt: die Gamer. Den wenigsten dürfte bekannt sein, dass die Umsätze der Gamesbranche mittlerweile sehr deutlich über den Umsätzen der Musik- und Filmindustrie zusammengenommen liegen. Fast zehn Milliarden Euro Umsatz wurden 2022 in Deutschland erzielt.
Und was spielt die NextGen so? Die Bandbreite ist groß: von Open-World-Spielen – wie zum Beispiel Minecraft (22 Prozent) – über Casual Games bis hin zu komplexen Strategiespielen ist alles dabei. Ja, natürlich auch Action-, Rollen-, Adventure- und Sportspiele. Hier finden sich junge Menschen zusammen zum Zocken, Bauen, Batteln. Oftmals erleben sie hier das, was ihnen in der realen Welt immer schwerer fällt, zu finden: Gemeinschaft. Gleichgesinnte. Anerkennung. Und wie wichtig das ist, wissen mindestens alle die, die schon mal die Sims gespielt haben: Hat der Sim zu wenig oder gar keine soziale Interaktion mit anderen Sims, fällt seine Lebensenergie – er ist einsam und unzufrieden.
Ja, Anerkennung. Ein völlig unterschätztes Mittel, das Kinder und junge Menschen zum gesunden Aufwachsen benötigen. In der Schule finden sie es oft viel zu selten. Dort geht es in erster Linie um Fehler und darum, was alles noch nicht verstanden wurde. Unser defizitorientiertes Schulsystem lebt Lernen so ziemlich genau im Gegenteil, wie es Gaming vermag.
Hier verbirgt sich ein großer Hebel, um Zugang zur NextGen zu bekommen, aber auch um zu zeigen: Lernen macht Spaß! Zumal ein großer Teil der Games auf einem wie auch immer gearteten Wirtschaftssystem basieren. Warum dies im Bildungskontext so wenig genutzt wird, bleibt ein Rätsel, liegt aber vielleicht auch im föderal organisierten Schulsystem selbst begründet. Es ist zu befürchten, dass eine Schule, die diesen Herausforderungen gerecht wird, trotz zahlreicher engagierter Menschen vor Ort noch lange eine Utopie bleibt: eine Schule, die Stärken stärkt und kompetenzorientiert fördert; eine Schule, die Spaß macht und offen ist auch vor und nach dem Unterricht; eine Schule, die Ort des Lernens und ganzheitlichen Begegnens ist. Dabei wäre es so wichtig, die kommenden Generationen zu stärken in dem, was sie schon mitbringen, und ihnen Welten zu eröffnen, die sie noch nicht kennen. Anerkennung, Zuwendung, Verständnis und die Möglichkeit, sich selbstbestimmt weiterzuentwickeln – Dinge, mit denen jeder Disneyfilm bestens funktioniert, braucht die NextGen als Basis, um für zukünftige Herausforderung gerüstet zu sein.
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